Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.08.2023 – 22 D 201/22.AK
Immissionsschutzrecht – Drittanfechtung der Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Windenergieanlage – Artenschutz bei Windkraftanlagen
Leitsatz – Artenschutz bei Windkraftanlagen
Die den Betrieb von Windenergieanlagen an Land betreffende Sondervorschrift des § 45b Abs. 1 bis 6 BNatSchG findet im Rahmen der artenschutzrechtlichen Prüfung auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (erstmalig) Anwendung, wenn der Vorhabenträger dies nach § 74 Abs. 5 BNatSchG verlangt. Dem steht insbesondere der Wortlaut von § 74 Abs. 4 und 5 BNatSchG nicht entgegen; dieser ist vielmehr auslegungsoffen (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).
Die beispielhafte Aufzählung von Schutzmaßnahmen nach Abschnitt 2 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG zur Vermeidung der Tötung oder Verletzung von Exemplaren europäischer Vogelarten nach dem dortigen Abschnitt 1 durch Windenergieanlagen kann nicht als abschließende Konkretisierung einzelner Standardmaßnahmen bzw. eines Mindeststandards verstanden werden, von der in ihrem Anwendungsbereich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt abgewichen werden darf. Ebenso fehlt jeder normative Ansatz für die Annahme, die gesetzgeberische Vorgabe des § 45b Abs. 3 Nr. 2, 2. HS BNatSchG könne nur zum Tragen kommen, wenn die in Abschnitt 2 beschriebenen fachlich anerkannten Maßnahmen buchstabengetreu übernommen würden.
Für die Unterscheidung nach Fußnote 1 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG zwischen „im weiteren Flachland“ und „in hügeligem Gelände“ zur Bestimmung der Kollisionsgefahr der dort aufgeführten europäischen Vogelarten durch Windenergieanlagen kann die Einteilung in biogeografische Regionen (v.a. atlantische und kontinentale Region) grundsätzlich einen ersten Anhalt liefern. Letztlich sind aber die konkrete räumliche Situation und Umgebung des Vorhabenstandorts – einschließlich des Brutplatzes der betreffenden Art – insoweit allein maßgeblich und daher näher zu untersuchen.
Es fehlt – nach wie vor – eine allgemein anerkannte Fachmeinung zu der Frage, bis zu welcher Windgeschwindigkeit Windenergieanlagen ohne einzelfallbezogene Feststellungen abzuschalten sind, um das Tötungsrisiko für Fledermäuse hinreichend im Sinne des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG zu verringern. Ein Abschaltalgorithmus, nach dem die Windenergieanlage bei Windgeschwindigkeiten von < 6 m/s und Temperaturen über 10? C bis zur Durchführung eines Gondelmonitorings abzuschalten ist, liegt weiterhin im Spektrum des naturschutzfachlich nach dem aktuellen Forschungsstand Vertretbaren und ist daher nicht zu beanstanden.